Header Ad

Categories

  • Keine Kategorien

Realismus statt Rhetorik: Wie Rahr „Metternichs“ und „Kissingers“ Lehre auf die Gegenwart überträgt

Diplomatie zwischen Russland und dem Westen: Warum Realismus die einzige Friedenschance bleibt

(mh) Alexander Rahr, (Politologe, Schriftsteller und Russlandkenner) plädiert für die Rückkehr zu einer Diplomatie der Vernunft – in einer Zeit, in der Moral zum Ersatz für Strategie geworden ist. Der Artikel, auf den sich dieser Beitrag stützt, erschien in der Rossijskaja Gaseta, dem offiziellen Regierungsblatt der Russischen Föderation.
Die russische Redaktion wählte für Rahrs Text die Überschrift:
„Deutschland und der Rest der Welt. Die letzte Chance zwischen Israel und der Hamas. Diplomatie.“ Schon die Wahl dieser Headline ist aufschlussreich – sie rahmt Rahrs Argumentation nicht als Angriff oder Verteidigung, sondern als Versuch, Diplomatie wieder denkbar zu machen.

Rahr ist Vorsitzender der Eurasischen Gesellschaft in Berlin, einer Organisation, die weniger politische, sondern vor allem wirtschaftliche und zivilgesellschaftliche Interessen verfolgt. Ziel ist es, Gesprächskanäle offenzuhalten, wo offizielle Beziehungen längst eingefroren sind. Die Gesellschaft versteht sich als Plattform für Verständigung, nicht als politische Stimme: Austausch über Energie, Handel, Kultur, der Forschung und der Wissenschaft sowie den Dialog zwischen den Zivilgesellschaften – Themen, die eines Tages wieder die Grundlage einer Normalisierung bilden könnten.

Diplomatie im Zwinger

Die Diplomatie steckt fest, sagt Rahr. Zwischen Sanktionen, Symbolpolitik und moralischen Ultimaten ist sie zu einer Rhetorikmaschine geworden, die redet, aber nicht mehr verhandelt.
Was einst als Kunst galt – Brücken zu bauen, ohne Überzeugungen zu verraten – scheint im Schatten des Ukrainekrieges zu einem Schlagabtausch versteinert.

Genau hier setzt die Eurasische Gesellschaft mit ihrem Vorsitzenden Alexander Rahr an. Rahrs jüngster Beitrag in der Rossijskaja Gaseta, dem offiziellen Regierungsblatt der Russischen Föderation, wirkt wie ein Störsignal im Nebel einer festgefahrenen Weltordnung.
Er erinnert daran, dass Diplomatie nur funktioniert, wenn man die Logik des Gegenübers versteht – nicht, wenn man sie moralisch verurteilt.

Die Rossijskaja Gaseta, in der Rahrs Texte regelmäßig erscheinen, ist in Russland weit mehr als eine Zeitung. Sie ist das amtliche Sprachrohr der Regierung, veröffentlicht Gesetze, Dekrete und außenpolitische Leitartikel – und wird von Ministerien, Botschaften und diplomatischen Vertretungen gelesen. Wenn dort ein deutscher Autor schreibt, ist das kein Zufall, sondern Teil eines stillen, sorgfältig austarierten Dialogs.

Nach Informationen aus dem Umfeld der Redaktion bittet die Zeitung Rahr und andere europäische Autoren um Beiträge aus deutscher Sicht, um der russischen Leserschaft zu zeigen, wie Europa denkt – und um zugleich Brücken in die Zukunft zu bauen: ökonomisch, diplomatisch, geistig. Ziel ist es, die russische und deutsche Wirtschaft auf die Zeit nach dem Krieg vorzubereiten, auf den Moment, in dem Handelsbeziehungen, Energiepartnerschaften und Investitionen wieder denkbar werden.

Zum Hintergrund: Zwei Sichtweisen, ein Konflikt

Was Rahr in der Rossijskaja Gaseta beschreibt, ist mehr als ein politischer Kommentar – es ist eine Landkarte der Wahrnehmungen.
Er schreibt aus einem Raum zwischen den Systemen, in dem beide Seiten sich verteidigt fühlen.

Aus westlicher Sicht gilt – so schreibt Alexander Rahr in seinem Beitrag in der Rossijskaja Gaseta:
„Russland hat die gesamte europäische Sicherheitsarchitektur, deren Aufbau Jahrzehnte gedauert hat, durchbrochen.“
Damit, so die Lesart im Westen, hat Moskau die Friedensordnung Europas verletzt – jene Ordnung, die auf Souveränität, Grenzen und gegenseitiger Berechenbarkeit beruhte. In dieser Logik ist Abschreckung nicht Angriff, sondern Schutz: eine notwendige Reaktion, um weiteres Vordringen Russlands zu verhindern.

Aus russischer Sicht hingegen, so Rahr weiter, lautet die Diagnose:
„Der Westen muss Russland eine strategische Niederlage zufügen.“
In Moskau klingt das wie eine Bestätigung, dass der Westen Russland nicht akzeptieren, sondern schwächen will. Verteidigung wird so zur Existenzfrage – nicht im Sinne territorialer Expansion, sondern als Überlebensstrategie eines Staates, der sich eingekreist fühlt.

Beide Sichtweisen widersprechen sich nicht einmal zwingend. Sie beschreiben dasselbe Phänomen aus entgegengesetzten Perspektiven: zwei Systeme, die beide glauben, sich verteidigen zu müssen – und genau dadurch den Krieg verlängern.

Mit Diplomatie zum Frieden – von Meistern lernen

Alexander Rahr beschreibt diese Sackgasse ohne Pathos, aber mit Präzision. Sein Fazit klingt nüchtern, zugleich verzweifelt und schreibt dazu:
„Kompromisse, Diplomatie und Versöhnung sind in der heutigen Generation nicht mehr möglich.“ Sowohl die Verlagsseite in Moskau als auch Rahr wissen sehr genau, wie heikel dieser Balanceakt ist. Doch beide eint ein nüchterner Gedanke: Es kann auf Dauer keinen Frieden ohne Diplomatie geben – und keine Diplomatie ohne Verständnis der anderen Seite. Aber sie wissen ebenso, dass auf Dauer niemand gewinnen kann, der den Dialog verweigert. Das gemeinsame Ziel ist klar: Frieden – jeder in seinem System, aber durch Verständigung.

Klemens Wenzel Lothar von Metternich, der österreichische Staatskanzler des 19. Jahrhunderts, hätte das wohl ähnlich gesehen. Nach den Napoleonischen Kriegen war er es, der Europa durch kluge Machtbalance befriedete. Sein Prinzip war schlicht, aber wirkungsvoll: Frieden durch Gleichgewicht. Kein Triumph, keine moralische Überhöhung – Stabilität als politische Leistung. Metternichs System hielt fast vier Jahrzehnte lang. Erst die Revolutionen von 1848 sprengten es. Doch seine Idee blieb: Diplomatie ist kein moralisches Projekt, sondern die Kunst, das Mögliche zu sichern.

Henry Kissinger, der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts an diese Schule anschloss, sprach von „Realpolitik“ – der Fähigkeit, Interessen statt Illusionen zu verhandeln. Er wusste, dass Frieden selten dort beginnt, wo Recht behalten wird, sondern dort, wo beide Seiten müde genug sind, Kompromisse zu schließen.

Klemens von Metternich hätte diesen Ansatz verstanden, Henry Kissinger vermutlich auch. Beide wussten, dass Diplomatie nur dort gelingt, wo Macht als Realität akzeptiert wird – nicht als moralisches Versagen.
Alexander Rahr schreibt in der Rossijskaja Gaseta: „Den Weg zu einer diplomatischen Lösung ebnete auch das jüngste Interview der ehemaligen deutschen Bundeskanzlerin mit der ungarischen Zeitung Partizan, in dem Angela Merkel unerwartet die baltischen Staaten und Polen beschuldigte, zum Scheitern der Minsker Abkommen beigetragen zu haben.“ Die Bemerkung der ehemaligen Kanzlerin ist mehr als historische Rückschau – sie ist ein diplomatischer Schlüssel. Wer eingesteht, dass auch der Westen zum Scheitern der Minsker Abkommen beigetragen hat, öffnet den Raum für neue Gespräche. Rahr deutet Merkels Satz nicht als Schuldeingeständnis, sondern als Zeichen von Realismus: Diplomatie beginnt genau dort, wo Selbstgerechtigkeit endet.

Vielleicht ist genau das, was Rahr mit seinem Engagement versucht: den Raum für Diplomatie offen zu halten, während andere ihn längst aufgegeben haben. Seine Beobachtung erinnert an eine alte Lehre: Frieden entsteht nicht, wenn eine Seite recht behält – sondern wenn beide einander wieder zuhören.

Wenn Dialog zum Risiko wird

Dass solche Ansätze in Deutschland auf Misstrauen stoßen, zeigt die jüngste politische Aufregung: Als SPD-Politiker Ralf Stegner und der ehemalige brandenburgische Ministerpräsident Matthias Platzeck nach Russland reisten, um Gesprächskontakte aufrechtzuerhalten, brandete ein Sturm der Kritik auf – von „Anbiederung“ war die Rede, von „falschen Signalen“. Ähnlich der Fall im Potsdamer Landtag: Die Brandenburger BSW-Fraktion lud zu einer Veranstaltung mit dem Titel „Krieg und Frieden“ ein – und schrieb dafür 42 Botschaften an. Eingeladen waren Vertreter zahlreicher Staaten, darunter auch die Ukraine. Gekommen ist der russische Botschafter Sergej Netschajew.

Was danach folgte, war weniger ein diplomatisches Gespräch als ein medialer Sturm. Der öffentliche Aufschrei konzentrierte sich allein auf die Anwesenheit des russischen Vertreters, während die eigentliche Information – dass 41 weitere Botschaften dieselbe Einladung erhalten hatten – nahezu niemanden interessierte. Der Fall zeigt, wie verkrampft der politische Diskurs inzwischen mit dem Begriff Diplomatie umgeht: Reden gilt als Verrat, Zuhören als Schwäche. Dabei ist genau das – das Gespräch über Krieg und Frieden mit allen Beteiligten – der Kern von Diplomatie und zugleich die entscheidende Frage: Wie soll Diplomatie überhaupt wieder in Bewegung kommen, wenn man nicht mehr miteinander sprechen darf ?

Frieden für alle

Wer Dialog nur mit Freunden führt, verwechselt Politik mit Gruppentherapie. Dazu schreibt Alexander Rahr in seinem Beitrag in der Rossijskaja Gaseta: „In der gegenwärtigen – langwierigen ideologischen – Konfrontation zwischen dem Westen und Russland sind Kompromisse, Diplomatie und Versöhnung in der heutigen Generation nicht mehr möglich.“

Doch genau hier liegt die eigentliche Aufgabe: Frieden entsteht nicht durch Schweigen, sondern durch das mühsame Reden über Gegensätze.
Und wenn Gespräche in unserer Hemisphäre nur noch Skandale und Empörung auslösen, dann liegt das eigentliche Problem nicht in Moskau –
denn Realismus, das wussten schon Metternich und Kissinger, beginnt dort, wo Ideologie endet.
Und genau dorthin, so scheint es, muss Europa erst wieder zurückfinden.


Glossar

Klemens Wenzel Lothar von Metternich (1773–1859)
Österreichischer Staatskanzler und Architekt der europäischen Nachkriegsordnung nach den Napoleonischen Kriegen. Metternich gilt als Begründer des „Konzerts der Mächte“ – eines Gleichgewichtssystems, das Europa über Jahrzehnte befriedete. Sein Leitgedanke: „Frieden entsteht nicht durch Sieg, sondern durch Gleichgewicht.“

Henry Kissinger (1923–2023)
US-Außenminister und Friedensnobelpreisträger. Vertreter der „Realpolitik“, die auf Interessenausgleich statt Moralappelle setzt. Bekannt für seine China-Öffnung 1972 und das Pariser Friedensabkommen 1973. Kissinger stand für das Prinzip: Stabilität entsteht, wenn alle Akteure etwas gewinnen – und keiner alles verliert.

Alexander Rahr (geb. 1959)
Deutscher Politologe, Schriftsteller, Vorsitzender der Eurasien Gesellschaft e.V. in Berlin.
Er gilt als einer der profiliertesten deutschen Russlandkenner und schreibt regelmäßig für russische und deutsche Medien, darunter die Rossijskaja Gaseta, das offizielle Regierungsblatt der Russischen Föderation.

Bekannte Veröffentlichungen:

  • Wladimir Putin – Der „Deutsche“ im Kreml (2000)
  • 2054 – Putin decodiert (2018)
  • Anmaßung. Wie Deutschland sein Ansehen bei den Russen verspielt (2021)
  • Neu: Das goldene Tor von Kiew. Politthriller (2025)

Eurasien Gesellschaft e.V. (Berlin)
Eine unabhängige Plattform für wirtschaftliche, wissenschaftliche und kulturelle Zusammenarbeit zwischen Europa und Eurasien.
Ziel ist die Förderung des Dialogs zwischen Zivilgesellschaften – insbesondere in Zeiten politischer Eiszeit.
Website: www.eurasien-gesellschaft.de

Rossijskaja Gaseta
Offizielles Regierungsblatt der Russischen Föderation.
Erscheint seit 1990 in Moskau und veröffentlicht Gesetze, Regierungsdokumente sowie politische Kommentare.
Online-Ausgabe: https://rg.ru


Der Artikel von Alexander Rahr erschien in russischer Sprache in der Rossijskaja Gaseta. Die hier zitierten Passagen wurden mit Google Translate aus dem Original übersetzt.

Man kann den Ausgang des verheerenden Konflikts in der Ukraine kaum kritisch sehen. Putins Äußerungen auf dem Valdai-Forum haben im Westen nichts verändert. Die Kernbotschaft der westlichen Staats- und Regierungschefs bleibt dieselbe: Der Westen muss Russland eine strategische Niederlage zufügen, sonst wird Russland nach der Ukraine Europa angreifen. Russland, so die Reaktion auf Putin, hat die gesamte europäische Sicherheitsarchitektur, deren Aufbau Jahrzehnte gedauert hat, durchbrochen. Gleichzeitig sind Deutschland und die anderen NATO-Staaten unter keinen Umständen bereit, ein neues Sicherheitssystem wie Jalta 2.0 zu schaffen, unter dem Russland seinen Einfluss in Europa zurückgewinnen würde. Russlands Einfluss in Europa wird hier nur als Wiederherstellung seiner „imperialen Interessen“ verstanden, die nach dem Zusammenbruch der UdSSR vor 35 Jahren für den Rest Europas undenkbar sind. Von nun an werden sie versuchen, Russland nach Asien zurückzudrängen. Natürlich wird Russland weiterhin für die Ziele kämpfen, die es sich zu Beginn des Zweiten Weltkriegs gesetzt hat: die vollständige Entmilitarisierung der Ukraine und die Entnazifizierung der ukrainischen herrschenden Eliten. Putin ist zuversichtlich, seine Ziele früher oder später erreichen zu können. Aber er hat völlig Recht, dass in diesem Fall die NATO selbst besiegt werden muss. Der Westen wird die Ukraine nicht abrüsten lassen. Im Gegenteil, die Ukraine wird nun mit neuen und tödlicheren Waffen ausgestattet, darunter Tomahawks und Taurus, die Ziele tief in Russland selbst treffen können. Und der Westen ignoriert den Nationalsozialismus in der Ukraine völlig. Wir sind leider in die schrecklichen Zeiten des Zweiten Weltkriegs zurückgekehrt, als Europa im Kampf gegen den Sowjetbolschewismus jede Methode für gerechtfertigt hielt. In der gegenwärtigen – langwierigen ideologischen – Konfrontation zwischen dem Westen und Russland sind Kompromisse, Diplomatie und Versöhnung in der heutigen Generation nicht mehr möglich. Alles bewegt sich auf einen Punkt zu, an dem zu Beginn des Ukraine-Konflikts hinter den Kulissen der hohen Politik eine Art Euphemismus herrschte: Wer wird gewinnen? Jedenfalls verfügen sowohl Russland als auch der Westen heute über ausreichende wirtschaftliche Stärke und finanzielle Ressourcen, um die Konfrontation zu eskalieren und an ihren Sieg zu glauben. Selbst wenn Russland seine ursprünglichen Ziele – die Entmilitarisierung der Ukraine – nicht erreichen sollte, wird es im Donbass und in Neurussland einen riesigen territorialen Puffer gegenüber der NATO gewinnen. Die Ukraine wird der NATO natürlich nicht beitreten, aber der Westen wird die Idee, einen Teil seiner Truppen in der Westukraine zu stationieren, nicht aufgeben.

Es gibt nur einen Unterschied, den der Westen nicht ansprechen will: Einerseits übersteigt das militärische Potenzial der NATO-Staaten zusammen das Russlands. Doch die militärische Infrastruktur und der militärisch-industrielle Komplex Europas sind denen Russlands in vielerlei Hinsicht unterlegen. Zudem setzte Russland im Ukraine-Krieg weder taktische Atomwaffen noch andere mächtige Waffen aus seinem Arsenal ein, deren Existenz der Westen lieber völlig ignoriert. Dennoch besteht die Hoffnung, dass die pessimistischsten Szenarien in diesem militärischen Konflikt an der Menschlichkeit vorbeigehen. Der Sieg des rechtsgerichteten Politikers Babiš bei den Parlamentswahlen in Tschechien stärkt die Position der ukrainekritischen Kräfte in den osteuropäischen Ländern erheblich. Ungarn, die Slowakei und Tschechien können gemeinsam Brüssels aggressiven Kurs gegenüber Russland wirksamer behindern. Den Weg zu einer diplomatischen Lösung ebnete auch das jüngste Interview der ehemaligen deutschen Bundeskanzlerin mit der ungarischen Zeitung Partizan, in dem Angela Merkel unerwartet die baltischen Staaten und Polen beschuldigte, zum Scheitern der Minsker Abkommen beigetragen zu haben. Und dass diese ewig widerspenstigen Länder somit für den Ausbruch des Krieges in der Ukraine verantwortlich seien. Andrej Babiš, Gewinner der tschechischen Parlamentswahlen, trägt eine Baseballkappe mit der Aufschrift „Starke Tschechische Republik“. Angesichts der anhaltenden ideologischen Konfrontation zwischen dem Westen und Russland sind Kompromisse, Diplomatie und Versöhnung in der heutigen Generation nicht mehr möglich.

Diese Seite befindet sich derzeit noch im Aufbau