Seit jenem Bild, auf dem ein russischer Panzer ein ziviles Auto in der Ukraine überrollt, ist die Welt, wie wir sie kannten, eine andere geworden. Über 1360 Tage sind seit dem 24. Februar 2022 vergangen – seit Wladimir Putin die Invasion der Ukraine als „Spezialoperation“ deklarierte und behauptete, der militärische Schlag sei binnen weniger Tage abgeschlossen. Heute steht dahinter der brutalste Krieg auf europäischem Boden seit 1945. Schätzungen seriöser Beobachter gehen von mehr als 250.000 gefallenen russischen Soldaten, insgesamt über einer Million russischen Toten und Verwundeten und 60.000 bis 100.000 ukrainischen Gefallenen aus. Die Vereinten Nationen dokumentieren über 14.000 getötete Zivilisten – mit erheblicher Dunkelziffer nach oben.
Weltweit wurden mehr als 300 Milliarden Euro an militärischer, finanzieller und humanitärer Unterstützung zugesagt, allein die EU-Staaten und ihre Institutionen steuern rund 177,5 Milliarden Euro bei, mit Deutschland als einem der größten Einzelzahler. Ein Ende des Krieges ist nicht absehbar.
Krieg in 24 Stunden beenden
US-Präsident Donald Trump hatte es im Wahlkampf großspurig anders versprochen: Er könne den Krieg „innerhalb von 24 Stunden“ beenden. Später nannte er diese Aussage „sarkastisch“, aber er widerrief sie nie. Der viel beachtete „Alaska-Gipfel“, bei dem Trump Putin in Fernseh-Manier empfing und F-22-Jets als Kulisse aufstellen ließ, brachte jedoch keinen Durchbruch. Keine Waffenruhe, keine Vereinbarung, keine Perspektive.
Die Diplomatie hat eine weit über die klassische Außen- und Sicherheitspolitik hinausgehende Bedeutung: Jahrzehntelang existierten in Russland deutsch-russische Unternehmensnetzwerke mit über 4.000 deutschen Firmen, die dort aktiv waren – ein mitarbeitendes Heer von weit über einer Million Beschäftigten, die stolz waren, bei deutschen Unternehmen angestellt zu sein. Heute – so die gängigen Schätzungen – sind noch rund 1 400 deutsche Unternehmen mit und 250.000 Beschäftigten in Russland tätig.
Gleichzeitig laufen diplomatische Gespräche weiter – in der Türkei und an anderen diskreten Orten, oftmals fernab der Öffentlichkeit, ohne Presse, ohne Protokoll. Solche verdeckten Kanäle gehören seit jeher zur internationalen Politik. Und genau hier kann auch die Gesellschaft ihren Beitrag leisten: durch Aktivierung persönlicher Netzwerke, durch Austausch ohne ideologische Scheuklappen – und ohne die ständige Angst, dafür öffentlich an den Pranger gestellt zu werden. Wer heute also an Diplomatie festhält, wer darüber spricht, dass internationale Beziehungen ohne Dialog nicht funktionieren können, riskiert inzwischen reflexhaft als „Putin-Versteher“ abgestempelt zu werden.
Auch der Autor dieser Zeilen wurde nach einer einzigen Frage – ob Deutschland nicht wieder „mehr Demokratie wagen“ müsse, auch in der Außenpolitik – versuchsweise in diese Ecke gedrängt. Dabei war die Frage nie, ob man Putin verstehen müsse sondern, ob man Europa retten kann, ohne miteinander zu sprechen.
Russlands Bild auf deutsche Politik
In dieser Atmosphäre reiste im November eine Delegation der AfD nach Sotschi – und löste damit reflexhaft Empörung aus: „Landesverrat“, „Moskaus fünfte Kolonne“, „Geschichtsvergessenheit“. Doch unabhängig davon, wie man zur AfD steht, lohnt ein Blick darauf, wie diese Reise in Russland wahrgenommen wurde. Denn das Bild, das russische Medien zeichnen, unterscheidet sich diametral von der deutschen Debatte.
Die Delegation bestand aus drei Politikern: Steffen Kotré, Hans Neuhoff und Jörg Urban. Keiner der drei spricht offensichtlich Russisch, keiner verfügt über ein gewachsenes diplomatisches Netzwerk in Moskau, und keiner ist tief in Geschichte, Kultur oder politische Gebräuche Russlands eingearbeitet. Auf einer Bühne, auf der jahrzehntelang gewiefte Diplomaten, Minister und außenpolitische Schwergewichte miteinander gerungen haben, wirkten sie wie politische Touristen.
Unsere Anfrage an das Auswärtige Amt, wie die Reise der AfD-Abgeordneten bewertet wird, wurde durch die Pressestelle „Auswärtiges Amt“ am 20. November wie folgt beantwortet:
Wir haben Reisepläne von AfD-Abgeordneten nach Russland zur Kenntnis genommen. Eine Betreuung des Besuches durch die Deutsche Botschaft in Moskau ist nicht angefragt worden. Das Auswärtige Amt wurde durch die Abgeordnetenbüros nicht über Terminanfragen oder geplante Treffen informiert.
Seit Beginn des völkerrechtswidrigen Angriffskriegs Russlands gegen die gesamte Ukraine im Jahr 2022 verfolgen die Bundesregierung und die EU die grundsätzliche Linie, Kontakte mit russischen Regierungsvertretern auf ein absolutes Minimum zu beschränken.
Russische Pressestimmen
Und so zeichnet die russische Presse ein völlig anderes Bild. Der kremlnahe Politologe Igor Anatoljewitsch Kowaljow von der Higher School of Economics, einer der meistzitierten Russland-Analysten im Westen wie im Osten, formuliert es so:
«Альтернатива для Германии остаётся оппозицией второго ряда и не имеет реального влияния на внешнюю политику ФРГ.»
Alternativa dlya Germanii ostajotsja oppozitsijej vtorogo rjada i ne imeet realnogo vlijanija na vneshnyuju politiku FRG.
Die AfD bleibt eine Opposition zweiter Ordnung und hat keinen realen Einfluss auf die Außenpolitik der Bundesrepublik.
Diese Formulierung – „Opposition zweiter Ordnung“ – ist kein Zufall. Sie taucht in russischen Regierungsbriefings, Think-Tank-Papieren und Hintergrundgesprächen immer wieder auf. Die AfD wird als nützlicher Faktor eingeordnet, aber als politisches Leichtgewicht.
Auch das russische Außenministerium zieht eine klare Grenze:
«Контакты с отдельными партиями не заменяют диалог с официальным Берлином, который, к сожалению, заморожен.»
Kontakty s otdelnymi partijami ne zamenjajut dialog s ofitsialnym Berlinom, kotoryj, k sozhaleniju, zamorozhen.
Kontakte mit einzelnen Parteien ersetzen nicht den Dialog mit dem offiziellen Berlin, der leider eingefroren ist.
Maria Sacharowa, die Sprecherin des Ministeriums, ergänzt:
«Мы готовы к диалогу с правительством Германии, когда оно будет готово.»
My gotovy k dialogu s pravitelstvom Germanii, kogda ono budet gotovo.
Wir sind zu Gesprächen mit der deutschen Regierung bereit, sobald sie dazu bereit ist.
Osteuropäische Interessen mit asiatischer Gelassenheit und Professionalität
In Sotschi selbst wurde die Delegation höflich, aber kalkuliert empfangen. Laut russischer Presse trat Kotré auf, als handle es sich um ein offizielles diplomatisches Treffen. Für Moskau war die Teilnahme der AfD aber in erster Linie ein geopolitischer Demonstrationswert: der Beweis, dass Deutschland innenpolitisch gespalten ist und es Kräfte gibt, die bereit sind, mit Russland zu sprechen.
Der einflussreiche russische Analyst Dmitry Suslow von der HSE formuliert es so:
«Контакты с АдГ — это полезный сигнал, но не стратегическая линия.»
Kontakty s AdG — eto poleznyj signal, no ne strategitscheskaja linija.
Kontakte mit der AfD sind ein nützliches Signal, aber keine strategische Linie.
Und der außenpolitische Stratege Sergej Karaganow – einer der Architekten und „Hardliner“ der russischen Geopolitik der letzten Jahrzehnte – ordnet die AfD-Besuche als Zeichen „europäischer Systemfragilität“ ein. Nicht als Chance für Frieden, sondern als Symptom.
Der Politologe Wladimir Pastuchow bringt es besonders zugespitzt auf den Punkt was Putin will:
«Его друзья и советчики в Европе – Орбан, АдГ, в крайнем случае Мелони. Это та Европа, с которой он хочет и будет говорить.»
Ego druzja i sovetchiki v Europe – Orban, AdG, v krajnem slutschaje Meloni. Eto ta Evropa, s kotoroj on chochet i budet govorit’.
Seine Freunde und Ratgeber in Europa sind Orbán, die AfD, zur Not Meloni. Das ist das Europa, mit dem er sprechen will und wird.
Diese Sätze wirken wie ein Lob für die AfD – doch sie sind das Gegenteil. Für Moskau ist die AfD ein Werkzeug, kein Partner. Ein Verstärker, kein Kanal. Eine Gelegenheit, innenpolitische Spannungen in Deutschland nach außen zu zeigen – nicht mehr.
Die militärische Realität bleibt: Auf der einen Seite stehen – je nach Zählweise – über 3,3 Millionen NATO-Soldaten. Auf der anderen Seite rund eine Million russische Soldaten in aktiven Verbänden und Reservebereichen. Waffen bleiben entscheidende Argumente – für oder gegen Frieden.
Frieden durch oder ohne Waffen
Doch während der Westen über Waffen und Sanktionen streitet, verändert sich im Hintergrund die globale Geometrie der Macht.
BRICS – einst eine Fünfergruppe – ist heute ein wachsender Block mit geopolitischem Gewicht. Nicht im Sinne eines Europas dafür als Staatenverbund mit gemeinsamen Interessen und einem gemeinsamen „Kodex“. Die BRICS-Staaten waren ursprünglich ein Fünferbündnis, inzwischen hat sich daraus ein deutlich größerer Zusammenschluss mit spürbarem geopolitischem Gewicht entwickelt. Kein Staatenbund nach europäischem Vorbild, aber ein Netzwerk mit klar erkennbaren Überschneidungen wirtschaftlicher und strategischer Interessen.
Wenig beachtet bleibt im Westen, dass die Shanghai Cooperation Organisation (SCO) ihren Ursprung in einem sicherheitspolitischen Abrüstungsprojekt hat. Mitte der 1990er Jahre vereinbarten China, Russland, Kasachstan, Kirgisistan und Tadschikistan den Rückzug schwerer Waffen aus den Grenzregionen und die systematische Entmilitarisierung konfliktreicher Zonen. Es war ein praktischer Versuch, jahrzehntelange Spannungen abzubauen – ein „Shanghai-Kodex“, der auf Vertrauen, Stabilisierung und den Verzicht auf militärische Drohkulissen setzte.
Aus diesen Shanghai Five entstand 2001 die SCO: kein Bündnis nach NATO-Muster, sondern ein Mechanismus, der Frieden durch Abrüstung und Dialog organisieren sollte.
BRICS+ wollen Anschluss mit Wirtschaft und Frieden
Parallel dazu formierte sich BRICS – ein wirtschaftlich-strategischer Verbund, kein Sicherheitsblock –, der sich heute mit der SCO in Teilen personell überschneidet, aber unabhängig agiert. Die gemeinsame Schnittmenge liegt weniger in institutionellen Strukturen als in der Suche nach multipolaren Kooperationsformen, die nicht auf Konfrontation, sondern auf Stabilität ausgerichtet sind.
Das prägt bis heute die gemeinsame Selbstbeschreibung der SCO: Sicherheit durch Dialog, nicht durch Blockbildung. Und genau dieser Geist findet zunehmend Anschluss in der erweiterten BRICS-Welt, die nach Alternativen zu den westlich dominierten Foren sucht. Mit der Erweiterung um Länder wie Ägypten, Iran, Äthiopien und die Vereinigten Arabischen Emirate umfasst BRICS+ inzwischen rund 45 bis 48 Prozent der Weltbevölkerung. Staaten wie Indonesien, Nigeria, Thailand, Kasachstan, Bangladesch und Venezuela haben Interesse an einer engeren Anbindung oder einem Beitritt signalisiert. Würden auch nur die bevölkerungsreichen Staaten Indonesien (280 Mio.), Nigeria (220 Mio.) oder Pakistan (240 Mio.) beitreten, würde BRICS+ über die Hälfte der Weltbevölkerung repräsentieren und die Wirtschaftsmacht der G7 in zentralen Bereichen übertreffen.
In dieser multipolaren Neuordnung wirkt die Vorstellung, politische Neulinge könnten mit symbolischen Besuchen in Sotschi Weltpolitik gestalten, fast rührend. Jahrzehntelange Architektur der Macht lässt sich nicht mit Parolen oder Selfies verändern. Weltpolitik verzeiht keine Polemik – sie verlangt Erfahrung, Gelassenheit, historische Kenntnis und harte Realpolitik.
Der Westen muss heute zweierlei können: Abschreckung, wenn es nötig ist, und Öffnung, wenn es möglich ist. Doch das gelingt nicht, wenn man Delegationen aus der zweiten oder dritten Reihe schickt. Und schon gar nicht, wenn – wie bei der AfD – politische Abenteurer ohne jedes staatliche Mandat eigenmächtig außenpolitische Showeinlagen inszenieren. An den entscheidenden Tischen erwartet man Vertreter mit Rang, Auftrag und Format – echte Spitzenpolitik, nicht selbsternannte Diplomaten auf Nebenbühnen. Das hat bereits Willy Brandts Ostpolitik gezeigt: reden, ohne naiv zu sein; verteidigen, ohne zu eskalieren; verstehen, ohne sich zu ergeben.
Quellenverzeichnis (wissenschaftlich vollständig, alphabetisch)
BBC / Mediazona – Russische Kriegsverluste (2024–2025).
https://www.bbc.com/russian/features-67414115
BRICS Expansion – EU Parliamentary Research Service (2024).
https://epthinktank.eu/2024/09/02/brics-expansion/
EU Parlament – Team Europe Ukraine Support Figures (2024–2025).
https://www.europarl.europa.eu/thinktank/en/document/EPRS_BRI(2024)747654
Gazeta.ru – Berichte zur AfD-Delegation in Sotschi (2025).
https://www.gazeta.ru
Kiel Institut – Ukraine Support Tracker (Version 18).
https://www.ifw-kiel.de/topics/war-against-ukraine/ukraine-support-tracker/
Lenta.ru – AfD und Russland (2025).
https://lenta.ru
Meduza – Artikel zu AfD-Reise / Russland-Beziehungen (2025).
https://meduza.io
Pastuchow, Wladimir – Telegram-Kanal (2025).
https://t.me/pastukhov
RBC – AfD in Sotschi (2025).
https://www.rbc.ru
RIA Novosti – Briefings Sacharowa / Außenministerium (2025).
https://ria.ru
RuPosters – BRICS-Europa Konferenz (2025).
https://ruposters.ru
TASS – Regierungs- und Außenamtsberichte (2025).
https://tass.ru
Ukraine OHCHR – Zivile Opferstatistik (2022–2025).
https://www.ohchr.org
Valdai Discussion Club – Karaganow, strategische Analysen.
https://valdaiclub.com
Vzglyad – Russische politische Analysen (2025).
https://vz.ru
NATO – Defence Military Figures (2024–2025).
https://www.nato.int












