Ein Kommentar von Michael Huppertz, www.zina24.de | Titelfoto Stadt Giessen
Draußen demonstrierten Zehntausende gegen die Gründung der neuen AfD-Jugendorganisation. Nach Angaben der Polizei verlief der überwiegende Teil der Proteste friedlich, einzelne Gruppen blockierten dennoch Zugänge, versuchten Absperrungen zu durchbrechen, und es kam zu Böllerwürfen. In diesem dicht gedrängten Szenario klemmt sich ein Privatwagen hinter einen Rettungswagen und nutzt dessen Durchlass durch eine Menschenmenge. Die Szene, aus dem Auto gefilmt, verbreitete die AfD über ihre eigenen Social-Media-Kanäle – inklusive der Behauptung, es habe sich um einen „offiziellen Konvoi“ gehandelt. Die Polizei widersprach dem umgehend.
Rechtlich ist der Fall klarer, als manche Kommentarspalten vermuten lassen: Wer sich hinter ein Einsatzfahrzeug hängt und dessen Weg „mitnutzt“, verstößt gegen die Straßenverkehrsordnung. Es geht um Pflichtverletzung, möglicherweise um Gefährdung. Die Ermittlungen laufen, auch mit Blick darauf, ob Demonstrierende verletzt wurden. Doch bevor Fakten geklärt sind, hat das Video im Netz bereits eine Erzählung etabliert – die des „bedrängten AfD-Fahrzeugs“.
Genau diese Dynamik ist bezeichnend für den gesamten Tag: Aus wenigen Sekunden Rohmaterial entstehen Erregungsschleifen. In sozialen Medien dominierten Clips, die eine aggressive „Antifa“ zeigen sollten – wahlweise im Weitwinkel, aus der Hüfte gefilmt oder aus taktisch günstigen Blickwinkeln. Die nüchternen Polizeimeldungen, die von einer weit überwiegenden Friedlichkeit berichteten, setzen sich in diesem Umfeld kaum durch. Aufmerksamkeit folgt dem Reiz, nicht der Einordnung.
Ein aktuelles Beispiel macht das besonders deutlich: es wurde behauptet, ein Polizeipferd sei bei den Protesten verletzt oder gar eingeschläfert worden. Nach Angaben der Polizei stellte sich das als falsche Behauptung heraus – das Tier wurde nicht verletzt. Trotzdem reichte der kurze Clip aus, um in sozialen Medien die gewünschte Empörung zu erzeugen und eine weitere Protestwelle künstlich aufzuschaukeln.
Während draußen Empörung produziert wurde, fand drinnen in den Hessenhallen der eigentliche politische Vorgang statt: die Gründung der AfD-Jugendorganisation mit dem Namen „Generation Deutschland“. An deren Spitze wurde Jean-Pascal Hohm gewählt, ein Mann, den der Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem führt. Eine Personalie, die die strategische Ausrichtung der Partei deutlicher beschreibt als jedes Straßenbild – und doch weniger beachtet blieb.
Dieser beunruhigende Punkt wird konsequent unterschätzt: Die Empörungsindustrie arbeitet nicht mehr mit simplen Parolen – sie arbeitet mit Maschinen. Der Algorithmus sozialer Netzwerke ist im Kern nichts weiter als eine „Lärmverstärkeranlage“. Er misst nicht Wahrheit, nicht Qualität, nicht demokratischen Wert – nur Reibung. Jeder Konflikt, jeder Wutausbruch, jeder gezielte Schlagabtausch liefert ihm das Rohmaterial, das er braucht: Interaktionen.
Trolle und Bots verstehen dieses System perfekt. Sie simulieren genau das, was der Algorithmus belohnt: hohe Frequenz, hohe Lautstärke, scheinbare Relevanz. Ein paar Dutzend Fake-Accounts können in Sekundenbruchteilen denselben Effekt erzeugen wie hunderte echte Nutzer. Der Algorithmus erkennt nicht, wer spricht – er erkennt nur, dass gesprochen wird. Und so entsteht künstliche Stimmung, die sich wie ein Echolot durch die Timelines frisst.
Das Gefährliche ist nicht die einzelne Lüge, sondern die Schubkraft dahinter: Der Algorithmus zieht Inhalte nach oben, die „zünden“. Er fragt nicht, ob sie die Demokratie beschädigen – nur, ob sie Klicks produzieren. Und während Trolle und Bots dieses System permanent befeuern, stehen viele demokratische Politiker daneben und betrachten das Geschehen, als wäre es ein Naturereignis, das man aussitzen könne.
Ein Minister formulierte es jüngst mit entwaffnender Leichtigkeit: „Wir lassen uns in den sozialen Medien nicht auf Grabenkämpfe ein.“ In ruhigeren Zeiten mag das wie Souveränität wirken. Heute klingt es eher wie ein Missverständnis der Lage – zumal einige derjenigen, die jetzt noch sprechen könnten, nach der nächsten Wahl womöglich nicht mehr im Parlament sitzen.
Man sieht es am Beispiel Robin Mesarosch (SPD): einer der wenigen, die im Netz überhaupt noch argumentativ präsent sind, die erklären, einordnen, widersprechen. Und genau jemand wie er steht auf wackeligem Terrain – weil der algorithmische Lärm am Ende nicht zwischen Engagement und Schweigen unterscheidet.
Währenddessen rutschen andere, die von den Wählerinnen und Wählern eigentlich abgewählt wurden und zuvor im politischen Alltag kaum sichtbar waren, über parteiinterne Listenplätze wieder in die Parlamente – wie mit einem Lotterielos. Und sie bleiben dort genauso stumm und unsichtbar, wie sie es zuvor waren.
Gerade deshalb ist die Haltung des Abwartens so gefährlich: Schweigen erzeugt ein Vakuum – und dieses Vakuum wird sofort gefüllt. Nicht mit Argumenten, sondern mit dem orchestrierten Lärm derer, die genau wissen, wie man den Algorithmus füttert.
Was gebraucht wird, ist keine Gegenpolemik, sondern sichtbare Führung: klare Entscheidungen, verständliche Maßnahmen, sachliche Einordnung – und all das dort, wo die Auseinandersetzung heute tatsächlich stattfindet: im Netz. Präsenz ersetzt Brandbeschleuniger. Verständlichkeit ersetzt die Geräuschkulisse.
Nur so entsteht ein Gegengewicht. Und nur so versteht die Mehrheit, dass die Demokratie nicht passiv ist, sondern aktiv Gegenwart gestaltet – bevor diese Entscheidung möglicherweise in andere Hände fällt.
Doch es ist keines. Und genau hier liegt der blinde Fleck:
Wenn die demokratische Mehrheit im Netz so handeln würde wie die orchestrierten Trollfabriken – also konsequent kommentieren, liken, widersprechen, melden, markieren – würde der Algorithmus kippen.
Nicht, weil er politisch wird, sondern weil er buchstäblich „sieht“, dass eine andere Energie dominiert. Die Dynamik würde sich umkehren. Hetze verliert Reichweite. Fakten steigen auf. Lautstärke allein reicht dann nicht mehr; sie wird von Masse überstimmt.
Das ist kein Wunschdenken, sondern reine Mechanik.
Algorithmen sind keine Ideologen. Sie sind Maschinen, die dem folgen, was am stärksten schiebt. Und im Moment schieben Trolle stärker, weil die demokratische Mehrheit still bleibt.
Kurz gesagt:
Man löscht kein Feuer, indem man daneben steht und hofft, dass es ausgeht. Man löscht es, indem man Löschmittel draufgibt. Und diese „Löschmittel“ sind Kommentare, Likes, Dislikes und konsequente Gegenrede – in einer Masse, die größer ist als das orchestrierte Rauschen der Bots.
Solange das nicht geschieht, brennt es weiter. Nicht, weil die Flammen stark sind, sondern weil niemand löscht.
Auch die Ästhetik der Veranstaltung trägt zur Irritation bei. Manche Bilder aus dem Inneren erinnern in ihrer Mischung aus Uniformität, Pathos und „Elite“-Narrativen an historische Vorbilder. Der Verweis auf die NaPolA – jene nationalsozialistischen Eliteschulen – ist keine Gleichsetzung, aber eine Mahnung: Bestimmte Haltungen, bestimmte Bilder, bestimmte Rhetoriken kehren nicht identisch wieder, sind aber erkennbar.
Und die Erkenntnis von diesem Tag in Gießen?
Der Tag von Gießen zeigt in aller Klarheit, wie soziale Medien politische Wirklichkeit verzerren können – und wie professionell die AfD diese Verzerrung zu nutzen weiß. Er zeigt aber auch, wie sehr die demokratische Gegenrede ins Hintertreffen geraten ist.
Wenn Empörung lauter wird als Realität, wachsen Stimmanteile an den Rändern. Wenn demokratische Akteure auf Distanz statt auf Deutung setzen, schwindet ihr Einfluss. Und wenn Bilder die politische Erzählung bestimmen, verliert die Demokratie Terrain – lange bevor es jemand bemerkt. Es ist bereits 5 nach 12.
Gießen war kein Ausnahmefall. Gießen war ein Symptom.
Quellen (alphabetisch sortiert)
- ARD-Tagesschau – Polizeilagen, Verletztenzahlen, Einschätzung der Protestdynamik
- ARD-Monitor / Bericht aus Berlin – Einordnung der AfD-internen Personalien und extremistischen Einstufungen
- dpa / hessenschau.de – Chronologie der Proteste, Angaben zu Verletzten und Polizeiberichten
- Hessische Polizei Mittelhessen – Stellungnahme zum Rettungswagen-Vorfall, Demenz des angeblichen AfD-Konvois
- MDR / RBB – Verfassungsschutz-Einstufung Jean-Pascal Hohms als gesichert rechtsextrem
- Polizeipferd – https://www.rundschau-online.de/politik/blockaden-und-demos-massenprotest-gegen-afd-jugend-fake-news-polizeipferd-1160074
- Süddeutsche Zeitung / FAZ – Analysen zur Protestlage und zur AfD-Strategie im digitalen Raum
- Verfassungsschutz Brandenburg – Einstufung „gesichert rechtsextrem“ bezüglich Jean-Pascal Hohm
- ZDF heute / heute journal – Videoanalysen und Einordnung der Social-Media-Dynamiken












